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Viele Religionen – welche Wahrheit?

Vortrag in der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen am 25.9.2002.

Sehr verehrte Damen, meine Herren,

sicher sind Sie in den letzten Wochen stark in Anspruch genommen worden durch die schreckliche Flutkatastrophe, die Ihre Stadt heimgesucht hat. Andere Themen treten dann naturgemäß zurück. Umso mehr freue ich mich über Ihr Interesse an unserem heutigen Vortragsthema, das Sie trotz anderer Sorgen hierher geführt hat.

Das Thema, um das es heute abend geht, ist von großer Aktualität und auch von großer Bedeutung für uns Christen. Es geht um die Frage, wie wir unser Verhältnis zu den anderen Religionen theologisch bestimmen sollen und bestimmen können. Das scheint umso dringlicher zu sein in einer Welt, in der sich die religiösen Konflikte vielerorts zuspitzen und oft gewalttätig entladen. Jede Religion erhebt einen Wahrheitsanspruch, der oft den anderen Religionen die Wahrheit abspricht. Wir erleben das als religiöse Intoleranz. Wenn solche Intoleranz oder sogar Fanatismus politisiert wird und fanatische Menschenmassen mobilisiert, dann entsteht eine hochexplosive Mischung, die das Zusammmenleben der Menschen und Völker akut bedroht.

I. Der zwielichtige Charakter der Religion

Gegenüber von Jerusalem am Hange des Ölbergs steht eine moderne Kirche, die in Form einer Träne gebaut ist. Die Kirche heißt „Dominus flevit“ (der Herr weinte). Sie soll an dem Ort stehen, wo Jesus über die heilige Stadt Jerusalem, den religiösen Mittelpunkt seines Volkes, geweint haben soll:

„Als er näher kam und die Stadt sah, weinte er über sie und sagte: Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was dir Frieden bringt. Jetzt bleibt es vor deinen Augen verborgen.“ (Lk 19,41f)

Von diesem Ort aus hat man einen überwältigenden Blick auf die heilige Stadt, auf den Tempelberg mit den golden schimmernden Kuppeln des Felsendoms und der al-Aqsa-Moschee, an dessen Seite sich die Westmauer des alten jüdischen Tempels, die sog. Klagemauer befindet. Der Ausblick ist überwältigend, und der Tempelberg strahlt eine erhabene Schönheit aus. Man möchte mei­nen, dort sei bereits ein Stück Himmel auf die Erde gekommen. Aber der Schein trügt. Wir wissen, was tagtäglich wirklich in dieser Stadt vorgeht.. Die Worte Jesu über Jeru­salem bekommen dadurch für uns eine große Aktualität. Die heilige Stadt dreier Weltre­ligionen ist zugleich deren Zankapfel. Und wenn man die fast täglichen und oft blutigen religiösen Streitigkeiten und Rivalitäten um die Heiligtümer, vor allem zwischen Juden und Muslimen um den Tempelberg, aber auch die engstirnigen Rivalitäten zwi­schen den christlichen Konfessionen um die Grabeskirche und um den Fest­kalender erlebt, stellen sich unweigerlich Fragen ein: Warum trennt „Heiliges“ mehr als es Menschen verbindet? Sind Religionen nicht auch Ausdruck menschlicher Unerlöstheit? Kommt das in dieser religiösen Konzentration in Jerusalem nicht deutlich zum Ausdruck? Sind die Religio­nen selbst auch ein Kreuz für die Menschheit? Hat Jesus selbst das nicht in seinem Konflikt mit der eigenen Religion am eigenen Leibe erfahren? Ist er nicht selbst Opfer von Religion geworden? Was könnte heute den Religionen Frieden bringen? Aus eigener Kraft sind sie offenbar nicht Friedensbringer. Was meint Jesus mit dem, was den Augen Jerusalems „verborgen“ bleibt? Wie kann auch Religion erlöst werden? Oder muss die Menschheit sogar von der Religion erlöst werden? Ein kühner Gedanke vielleicht. Aber hat Jesus nicht vielleicht sogar die Welt von der Religion erlöst? Wenn man den He­bräerbrief aufmerksam liest, könnte man tatsächlich diesen Eindruck gewin­nen.

Der Begriff „Religion“ ist im Bewusstsein der Menschen heute im allgemei­nen positiv besetzt. Gemeinhin assoziiert man mit Religion hohe sittliche und menschliche Werte. Die großen Weltreligionen haben Beträchtliches geleistet für die Vermittlung von echter Sittlichkeit und für das friedliche Zusammen­leben der Menschen. Mit Religionen verbinden wir Werte wie Frieden und Gerechtigkeit, wahre Herzensbildung, die die Menschen in der Haltung der Liebe und der Barmherzigkeit bestärkt, Wegweisung und Orientierung für das Zusammenleben. Viele Menschen betrachten und bewerten die Religio­nen fast ausschließlich unter diesem Aspekt der Ethik. Nicht wenige er­blicken im Beitrag der Religionen zur Ethik deren ganze Daseinsberechti­gung. Es gibt viele, die der religiösen Praxis ganz fern stehen, sich als nicht-gläubig betrachten und doch Religion und Religionsunterricht an den Schu­len für unverzichtbar halten, weil ihrer Meinung nach die Religionen ethische Instanzen sind, die der nachwachsenden Generation sittliche Werte und Le­bensorientierung vermitteln. Auch die Sozialwissenschaften betonen die Funktion, die die Religionen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben. Und der Theologe Hans Küng betont die Gemeinsamkeit aller großen Religi­onen in der Ethik.

Aus dieser Einsicht hat Küng sein Projekt Weltethos entwickelt. Er fordert, dass alle Religionen sich unabhängig von ihren verschiedenen Glaubensüber­zeugungen auf ihr sie verbindendes Ethos besinnen sollten und so mit ver­einter Kraft zum Weltfrieden und zum moralischen Fortschritt in der Menschheit beitragen. Wichtige Prinzipien der Sittlichkeit wie die „Goldene Regel“, das Verbot zu töten, zu stehlen und zu lügen sieht er in allen Religio­nen verwirklicht.

Es ist sicher richtig, dass Religionen in diesem Sinne wichtige wertever­mittelnde Instanzen sind, die zum Leben und Zusammenleben unverzicht­bare Beiträge leisten. Und dennoch haben Religionen nicht nur diese positive Seite. Religionen haben auch beigetragen zur Zwietracht. Sie haben Hass und Gewalt gesät. „Heilige Kriege“ wurden und werden geführt. Auch die christli­che Missionsgeschichte ist alles andere als gewaltfrei verlaufen. Im Namen der Religion ist unendlich viel Unheil geschehen, auch durch das Christen­tum. Kopfschüttelnd und entsetzt sehen wir im Fernsehen die Bilder, in denen sich religi­öser Fanatismus entlädt. Die Ereignisse des 11. September 2001 in New York und Washington haben die Weltöffentlichkeit geradezu aufgeschreckt. Nicht selten haben sich Religionen von politischen Machthabern für deren Ziele instrumentalisieren lassen. Religiöser Fundamentalismus ist in höchst negativer Weise „politisierte Religion“ (Bassam Tibi). Offenbar – und vielleicht wird das oftmals vergessen – sind Religionen doch nicht so positiv einzuschätzen, wie das meistens geschieht.

Auch die Bibel weiß um diese dunkle und gewalttätige Seite der Religion. Schon auf den ersten Seiten der Genesis begegnet sie uns in der Geschichte von Kain und Abel, vom ersten Brudermord. Er geschieht ausgerechnet während die beiden Brüder Gott ihr Opfer darbringen, während sie also Religion vollziehen. Kain hält das Opfer Abels für von Gott angenommen, sein eigenes aber nicht. Er muss denken: mit meinem Opfer ist etwas nicht in Ordnung. Ich stehe nicht richtig vor Gott, Abel aber steht richtig und ist angenommen. Und im Zorn darüber bringt er seinen Bruder um.

Sie sehen: die Bibel weiß um die Zwielichtigkeit von Religion. Religion ist keine harmlose Sache. Sie kann höchst gefährlich werden. Und das Kreuz Jesu erinnert uns daran, dass er an einem Konflikt mit seiner Religion zugrunde gegangen ist. Er sprach von Gott in einer Weise, die nicht in das Vorverständnis der religiösen Menschen, vor allem ihrer Führer, hineinpasste. Er sprach in einer Weise von Gott, dass sie ihm die Wut und die gewalttätige Bosheit religiöser Menschen einbrachte.

Das alles könnte uns nachdenklich machen: Ist Religion wirklich etwas Gutes? Muss man überhaupt religiöse sein, um ein gläubiger Christ zu sein? Was ist mit den vielen nicht-religiösen Menschen um uns. Man sagt, dass gerade in den neuen Bundesländern Religion nur noch die Sache einer Minderheit sei?. Müssten diese nicht-religiösen Menschen erst religiös werden, wenn sie Christen werden wollten? Leben sie schlechthin in der Unwahrheit?

Und wie können Christen zu den anderen Religionen stehen? In unserer multikulturellen Gesellschaft begegnen wir in unseren Städten tagtäglich Menschen, die religiös sind, aber nicht an Christus glauben: Muslime, Juden, Angehörige der asiatischen Religionen. Welchen Wahrheitswert haben deren Religionen? Und welchen Beitrag kann das Christentum leisten zum Frieden unter den Religionen? Wie kann man ihnen mit Toleranz und Achtung begegnen, ohne den eigenen christlichen Wahrheitsanspruch zu verraten?

II. Ein pastorales Dilemma

Das 2. Vatikanische Konzil hat sich erstmals in der lehramtlichen Verkündigung der Kirche positiv über die nichtchristlichen Religionen geäußert und ihnen einen Wahrheitsgehalt und sogar Heiligkeit zuerkannt: „Die Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist“ (Nostra aetate 2). Ausdrücklich räumt das Konzil den Anhängern anderer Religionen auch die Möglichkeit ein, das Heil zu erlangen (vgl. Lumen gentium 16; Gaudium et spes 22) und verabschiedet sich von einem rigiden Heilsexklusivismus. Damit trägt es der bereits neutestamentlichen Glaubensüberzeugung vom universalen Heilswillen Gottes Rech­nung (vgl. 1 Tim 2,4; Tit 2,11). Und überhaupt ist die Erklärung Nostra aetate über das Ver­hältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen stark vom Willen zum Dialog be­stimmt.

Andererseits ermahnt das Konzil ausdrücklich dazu, den unüberbietbaren Wahrheitsan­spruch der christlichen Botschaft aufrechtzuerhalten: „Unablässig aber verkündet sie [die Kir­che] und muss sie verkündigen Christus, der ist ‚der Weg, die Wahrheit und das Leben’ (Joh 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat“ (Nostra aetate 2). Am Geltungsanspruch der christlichen Botschaft und an der Überzeugung von der Unüberbietbarkeit ihrer Wahrheit werden an keiner Stelle Abstriche gemacht. Dies wird durch das rezente Dokument der Glaubenskongregation Dominus Iesus erneut eingeschärft.

Nun scheint es aber für viele ein Problem zu sein, wie man beide Haltungen miteinander in Einklang bringen kann. Vermutlich ist Do­minus Iesus auch als Reaktion auf eine einseitige Rezeption des 2. Vatikanischen Konzils zu betrachten, welche die positiven und die nichtchristlichen Religionen würdigenden Konzilsaussa­gen bereits als eine gewisse Relativierung der christlichen Wahrheit versteht. Tatsächlich ist eine solche pluralistische Relativierung auch in weiten Teilen der realen kirchlichen Öffent­lichkeit nicht zu übersehen. Wer auf dem unüberbietbaren Wahrheitsanspruch der christlichen Botschaft besteht, wird schnell der mangelnden Dialogbereitschaft und Toleranz, einer anti­pluralistischen Haltung und sogar des Fundamentalismus verdächtigt. Auch für Priester und pastorale Mitarbeiter ist es oftmals schwer, die Würdigung anderer Religionen mit dem unbe­dingten Geltungsanspruch der christlichen Botschaft so miteinander in Einklang zu bringen, dass diese Stimmigkeit auch verstanden wird. Im durchschnittlichen Verständnis kann eine Würdigung der religiösen Pluralität nur mit einer Relativierung der eigenen Position erkauft werden. Und das Beharren auf dem christlichen Wahrheitsanspruch scheint eine exklusivistische und undialogische Haltung so­wie mangelnde Offenheit zu signalisieren. Für Priester und pastorale Mitarbeiter, die mit ent­sprechenden Anfragen konfrontiert werden und zu öffentlichen Stellungnahmen aufgefordert sind, ist die gezeichnete Situation nicht selten dilemmatisch. Sie erfordert ein gutes theologisches Urteilsvermögen. In der Regel ist es für diese Be­rufsgruppen jedoch kaum möglich, die Flut an theologischer Literatur zu diesem Themenbe­reich auch nur einigermaßen zur Kenntnis zu nehmen und sich im Dickicht der Meinungen zu orientieren.

Aufgabe einer heutigen Theologie der Religionen wäre es nun, den christlichen Wahrheits­anspruch nicht nur so zur Geltung zu bringen, dass er den nichtchristlichen Religionen nur eine höfliche Würdigung zuteil werden ließe und ein nur partielles Anteilhaben an der eigenen Wahrheit einräumte. Es hieße vielmehr, im christlichen Wahrheitsanspruch die Be­dingung der Möglichkeit zu sehen, um den nichtchristlichen Religionen christlicherseits ebenso unüberbietbare Wahrheit zuzuerkennen. Wie aber kann das geschehen?

III. Die religionstheologische Sackgasse


Von seiten der christlichen Theologie hat man bisher versucht, das skizzierte Problem mit­hilfe dreier Grundmodelle zu lösen, die sich gegenseitig ausschließen: Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus. Die beiden erstgenannten Modelle sind geradezu klassisch. Sie rei­chen bis in die Väterzeit zurück. Das dritte ist neueren Datums.

Exklusivismus

„Extra ecclesiam nulla salus“ hieß das Axiom, das seit Origenes und Cyprian von Karthago zunächst das Verhältnis zu den in Verfolgungszeiten abgefallenen Christen, dann aber auch zu den Nichtchristen bestimmte und eine lange und z. T. verhängnisvolle Wirkungsgeschichte gehabt hat. Auf die Theologie der Religionen angewandt, bedeutet dieser ekklesiozentrische Grundsatz, dass die nichtchristlichen Religionen weder göttliche Wahrheit noch Heil vermit­teln können. Nur die eigene Religion besitzt die ganze und ungeteilte Wahrheit und ist des­halb als einziger Weg zum Heil zu verstehen. In sehr differenzierter Form vertrat auch Karl Barth einen religionstheologischen Exklusivismus.

Etwas vereinfacht und vergröbert ausgedrückt, kann man diese Position auf die Formel bringen: Nur die eigene Religion ist wahr, alle ande­ren sind falsch. Der christliche Exklusivismus bedeutet damit auch: Christus gegen die Reli­gionen. Vertreten wird diese Position gegenwärtig fast ausschließlich in fundamentalistischen und evangelikalen Gruppierungen. Sie übersieht jedoch, dass sie im Widerspruch zur christli­chen Überzeugung vom universalen Heilswillen Gottes steht, sowie zur neutestamentlichen Glaubensaussage, wonach Gott die Welt mit sich versöhnt hat (vgl. 2 Kor 5,19).

Inklusivismus

Das zweite Modell, der Inklusivismus, kann sich ebenfalls auf die christliche Frühzeit beru­fen. Justin z. B. öffnete sich für die griechische Philosophie und konnte darin so etwas wie eine praeparatio evangelii sehen. Möglich wurde das durch seine Logoslehre. Auch außer­halb des Christentums gebe es so etwas wie lógoi spermatikoí, also Samenkörner des Wortes Gottes und damit der Wahrheit, die es möglich machen, auch dort etwas von der christlichen Wahrheit zu vernehmen.

In unseren Tagen wurde die inklusivistische Position maßgeblich von Karl Rahner transzendentaltheologisch begründet und in zahlreichen Arti­keln entfaltet. Ausgangspunkt ist die Überzeugung von der transzendentalen Offenheit des Menschen auf das göttliche Mysterium hin, die ihn als potentiellen Hörer des Wortes qualifi­ziert. Der Mensch ist grundsätzlich ansprechbar für Gottes Wort und steht deshalb von vorn­herein nicht schlechthin in der Unwahrheit, wenngleich diese transzendentale Offenheit zu ihrer Erfüllung (und wohl auch zu ihrer Entbergung) der kategorial-geschichtlichen Vermitt­lung in der christlichen Offenbarung bedarf. Von christlicher Seite her ist deshalb die Heils­geschichte koextensiv mit der Menschheitsgeschichte als solcher und somit auch mit der Religi­onsgeschichte, in der sich ja diese Offenheit für das transzendente Geheimnis tatsächlich artikuliert.

Der Inklusivismus sieht deshalb in den nichtchristlichen Religionen nicht schlechthin Un­wahrheit. Er schließt sie hingegen in die eigene Wahrheit mit ein und räumt ihnen somit eine – graduell durchaus verschieden mögliche – Anteilhabe an der christlichen Wahrheit ein. Der Inklusivismus ist zur offiziellen lehramtlichen Position der katholischen Kirche auf dem 2. Vatikanischen Konzil geworden. Man kann ihn auf die Formel bringen: Nur die christliche Religion ist schlechthin wahr und heilsvermittelnd, während die anderen Religionen einen „Strahl“ dieser Wahrheit widerspiegeln. Nicht zu übersehen ist dabei jedoch bei aller Würdi­gung der nichtchristlichen Religionen ein klarer Superioritätsanspruch des Christentums. Christologisch ausgedrückt sieht der Inklusivismus Christus über den Religionen.

Pluralismus

Wie wir sehen, können die beiden traditionellen Positionen den christlichen Wahrheitsan­spruch offenbar nur auf Kosten des Wahrheitsanspruchs anderer Religionen zur Geltung brin­gen. Der Exklusivismus tut das durch die entschiedene Leugnung der Wahrheit anderer Reli­gionen, der Inklusivismus durch eine bedingte Bejahung derselben. Beiden gemeinsam ist: Sie können den christlichen Wahrheitsanspruch nur durch (unterschiedlich starke) Relativie­rung außerchristlicher religiöser Wahrheitsansprüche geltend machen.

Aus der berechtigten Unzufriedenheit mit diesen Modellen ist ein drittes hauptsächlich im angloamerikanischen Bereich entwickelt worden: der Pluralismus. Zu den Hauptvertretern dieser Richtung zählen in erster Linie John Hick und Paul F. Knitter. Ihre Theologie, die pluralistische Religionstheologie, versteht sich in konsequenter Abkehr von den bisherigen religionstheologischen Modellen als ein neues Paradigma. Indem sie den exklusivistischen Ekklesiozentrismus verwerfen und auch den inklusivistischen Christozentrismus überwinden wollen, plädieren die Pluralisten für eine theozentrische bzw. soteriozentrische Sichtweise. Nicht mehr Christus soll auch aus christlicher Sicht im Zentrum der Religionen und der Reli­gionsgeschichte stehen. Statt dessen soll selbst aus christlicher Perspektive gesagt werden kön­nen, dass alle Religionen ihre Mitte in der göttlichen transzendenten Wirklichkeit haben und sich um sie drehen.

Wie kommen die Pluralisten zu dieser Einschätzung? Sie berufen sich dafür auf die Kategorie der „religiösen Erfahrung“. Im pluralistischen Modell erscheinen die Religionen also als sozio-kulturell verschieden geprägte Manifestationen einer transzendenten Wirklichkeit. Ihnen allen liegt eine religiöse Erfahrung dieser transzendenten Wirklichkeit zugrunde. Diese macht die eigentliche Wahr­heit der Religionen aus. Hingegen sind ihre verschiedenen doktrinellen und rituellen Inhalte geschichtlich und kulturell bedingt und können deshalb nicht den Anspruch auf Wahrheit gegeneinander geltend machen. Die transzendente Wirklichkeit wird eben in verschiedenen geschichtlichen und kulturellen Kontexten verschieden erfahren. Keine Religion hat deshalb das Recht, die eigene Erfahrungsweise der transzendenten Wirklichkeit und die religiösen Ausdrucksweisen dieser Erfahrung für schlechthin wahr zu halten und die der anderen Religionen für falsch. Die Wahrheit aller liegt darin, dass alle sich zu recht auf eine – allerdings verschieden kon­zeptualisierte – Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit berufen können.

Erkenntnistheoretisch begründet John Hick seine Position mit der Erkenntnistheorie Imma­nuel Kants. Danach wird die uns umgebende Erfahrungswirklichkeit nicht so erkannt, wie sie an sich selber ist. Das Ansich der Dinge bleibt unerkennbar. Erkannt wird die Wirklichkeit nur so, wie sie uns erscheint, wie sie sich uns manifestiert. Dieses erkenntnistheoretische Mo­dell, für das Kant die Anwendung allein auf die empirische Wirklichkeit einschränkt, wird nun von Hick auch auf die Gotteserkenntnis angewandt. Gott wird nicht an sich selber er­kannt, sondern nur so wie er in der religiösen Erfahrung erscheint. Damit aber wird Gott selbst zu einem Teil der Erfahrungswirklichkeit. Allzu selbstverständlich nimmt Hick an, Gott könne auf diese Weise erfahren werden. Damit aber ist die Erkenntnisjenseitigkeit Gottes grundsätzlich keine andere als die eines jeden Gegenstands unserer Erfahrung, z. B. dieses Tisches oder eines Bleistifts.

Diese Problematik wird selten gesehen. Vor allem in unserer pastoralen Sprache in Homi­letik und Katechese gibt es einen inflationären Gebrauch des Wortes „Gotteserfahrung“. Da­durch wird insinuiert, Gott könne selbstverständlich Gegenstand unserer Erfahrung sein. Wer diese Voraussetzung unreflektiert übernimmt, wird in der pluralistischen Religionstheologie eine große Plausibilität erkennen und sie sich gerne zu eigen machen. Tatsächlich übt diese Theologie eine große Anziehungskraft auf viele auch in Europa aus. Sie scheint es möglich zu machen, der christlichen Religion anzugehören und diese Religion auch zu praktizieren, ohne deshalb die Wahrheit anderer Religionen in Abrede stellen zu müssen.

Doch dieses theologische Modell wird um einen teuren Preis erkauft. Es fordert unmissver­ständlich die Relativierung der Christologie, also des Kernstücks des christlichen Glaubens. Christus wird im Pluralismus neben andere große religiöse Gestalten gestellt, wie z. B. Buddha, Mohammed oder die alttestamentlichen Propheten. Er ist in dieser Sicht nur eine Heilsmittlerge­stalt unter anderen, ein Mensch also, der in außergewöhnlicher Offenheit auf Gott hin lebte. Solche Menschen gibt es in allen Religionen. Die pluralistische Religionstheologie muss sich deshalb vom Bekenntnis zu Jesus Christus als wahrem Gott und wahrem Menschen ver­abschieden und das chri­stologische Dogma des Konzils von Chalkedon in seiner dogmatischen Verbindlichkeit ablehnen. John Hick versucht, es in einem bloß metaphorischen Sinn zu verstehen. Denn keine andere Religion behauptet von ihrer Stiftergestalt, sie sei wahrhaft Gott. Solange das Christentum aber am Bekenntnis zur „wah­ren“ (und eben nicht metaphorischen) Gottheit festhält, erhebe es einen klaren Superioritäts­anspruch gegenüber anderen Religionen. Diese „Neuinterpretation“ (und faktisch Aufgabe) des christologischen Dogmas aber ist in den Augen der Pluralisten die conditio sine qua non, um ohne Superioritätsanspruch in einen interreligiösen Dialog eintreten zu können und also pluralismusfähig zu werden. So ist inzwischen auch hierzulande im Fahrwasser der pluralisti­schen Religionstheologie von „Deabsolutierung der Christologie“ und „christologischer Ab­rüstung“ (man beachte die schlimmen Formulierungen!) die Rede. Damit aber gibt die plura­listische Religionstheologie den eigentlichen Kern unseres Glaubens und eben deshalb den christlichen Glauben selbst auf. Das aber würden auch die Pluralisten keiner anderen Re­ligion zumuten wollen.

Zudem setzt die pluralistische Religionstheologie eine Metaperspektive voraus, von der aus die gemeinsame Wahrheit der Religionen in den Blick kommt, insofern diese Religionssysteme unter Absehung von ihren spezifischen doktrinellen Inhalten als gleichberechtigte Manifestationen der transzendenten Wirklichkeit erfasst werden. Diese Theologie betrachtet die anderen Religionen also nicht aus der eigenen Glaubensperspektive, sondern von einem über den Religionen stehenden Standpunkt. Das macht sie für den interreligiösen Dialog denkbar ungeeignet. In ihm geht es ja gerade um die Begegnung verschiedener religiöser Identitäten.

Wir sehen also schon an dieser knappen Skizze des Pluralismusmodells, wo seine eigentli­che Schwäche liegt. Während die ersten beiden Modelle von einer Relativierung der anderen Religionen leben, fordert der Pluralismus die Relativierung auch der eigenen. Man kann ihn auf die Formel bringen: Christus neben den Religionen.

Der Sackgassencharakter der drei Modelle


Insofern man es als unvermeidlich ansieht, sich letztendlich für eines der drei Modelle ent­scheiden zu müssen, ist die Religionstheologie in eine Sackgasse geraten. Diese Sackgasse ist maßgeblich auch für das pastorale Dilemma verantwortlich, das eingangs umrissen wurde. Tatsächlich gilt es fast als sententia communis, es könne keine Alternative zu diesen Optionen geben. Alle denkbaren Möglichkeiten, das Verhältnis einer Religion zu den anderen zu bestimmen, seien damit ausgeschöpft. Manche Beiträge zur Religionstheologie drehen und winden sich denn auch, um einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden. Einige probieren Kombinationen aus zwei dieser Optionen aus und sprechen dann etwa von einem pluralistischen oder auch von einem „mutualen“ Inklusivismus. Doch bleiben diese Versu­che in der Regel unbefriedigend. Oder sie behaupten, in der christlichen Binnenperspektive könne man durchaus christozentrisch bleiben, aber im interreligiösen Dialog müsste man die Religi­onen gewissermaßen von außen betrachten. Dann aber lege sich eine theozentrische Sicht nahe. Diese Versuche bleiben letztlich in dem Dreischema gefangen und damit in einem Vor­verständnis, in das sie auch die christliche Botschaft einzuordnen versuchen. So kann man allenfalls religionswissenschaftlich vorgehen.

Theologie aber treibt man auf der Basis der eigenen religiösen Überzeugung und durchaus in deren Interesse. Vom christlichen Glaubensstandpunkt aus ist es nun einmal unmöglich, die christliche Botschaft in ein vorgegebenes religionswissenschaftliches Vorverständnis einzu­ordnen. Der christliche Glaube ist hingegen selbst das Vorverständnis, um das Verhältnis zu den anderen Religionen zu bestimmen. Auf welcher anderen Basis sollte man als Christ ansonsten ande­ren Religionen das Sein in der Wahrheit zubilligen können? Von einem neutralen nichtchrist­lichen Standpunkt aus ist es schlechthin unmöglich, die Wahrheit des christlichen Glaubens oder die einer anderen Religion auszumachen. Eine religionswissenschaftliche Abstraktion vom eigenen Glaubensstandpunkt kann die Religionen nur als rituelle Zeichensysteme in den Blick nehmen, niemals jedoch ihre von ihnen verkündigte Wahrheit erkennen und würdigen.

Man wird der religionstheologischen Sackgasse also nur entkommen können, wenn man bereit ist, das den drei Modellen zugrunde liegende Vorverständnis aufzugeben und nach ei­nem anderen Weg Ausschau zu halten. Dieser wird von der christlichen Botschaft selbst be­reits gewiesen. Man muss nur Augen haben, um ihn zu sehen.

IV. Ein alternatives Modell: Interiorismus


Eine Alternative zu den genannten Optionen gründet in der Überzeugung, dass der christliche Glaube sich für seine Wahrheit auf eine Botschaft beruft, die er als „Wort Gottes“ versteht. Als Wort Gottes kann diese Botschaft nicht anders als eine unüberbietbare Wahrheit zu sein. Sie ist durch keine weitere Botschaft in ihrem Wahrheitswert mehr zu steigern. Denn wenn die christliche Botschaft als Wort Gottes verstehbar ist, mithin ein Wort sagt, das tatsächlich nur wahr sein kann, wenn Gott es gesagt hat, dann ist sie als endgültiges Wort über Mensch und Geschichte zu verstehen. Die christliche Botschaft teilt uns Gemeinschaft mit Gott mit und realisiert diese im aufnahmebereiten und gläubigen Hörer. Sie ist also genauso unbe­greiflich wie Gott selbst und fällt deshalb nicht unter unsere Begriffe. Die christliche Bot­schaft lässt sich von daher nicht einordnen in unser religiöses Vorverständnis und erst recht nicht in unsere theologischen Klassifikationsmodelle.

Das bedeutet, dass das Kriterium, um das Verhältnis des christlichen Glaubens zu den Reli­gionen zu bestimmen, in der christlichen Botschaft selbst gesucht werden muss.

Das besondere Verhältnis zur Schrift Israels als Paradigma


Mein Vorschlag greift einen Vorschlag des Frankfurter Fundamentaltheologen Peter Knauer aus dem Jahre 1974 auf und geht im wesentlichen von dem Verhältnis aus, das die christliche Botschaft bereits zur Heiligen Schrift Israels hat. Dieses Verhältnis der christlichen Botschaft zu Israel unterscheidet sich sowohl vom Exklusivismus, als auch vom Inklusivismus und nicht weniger von der pluralistischen Hypothese. Dieser Vorschlag möchte dieses besondere Verhältnis, das die christliche Botschaft zu Israel hat, als theologisches Paradigma verstehen, um ihr Verhältnis auch zu den anderen nichtchristlichen Religionen zu bestimmen und um auch deren unüber­bietbare Wahrheit verstehbar und universal verkündbar zu machen. Ich versuche, mich zu erklären.

Mein Vorschlag, den ich hier nur in Umrissen nachzeichnen kann, geht von der Tatsache aus, dass das Christentum ursprünglich keine selbstständige Religion ist, sondern nur Religion „in zweiter Potenz“. Das gehört wohl zu seiner Einzigartigkeit. Das Christentum ist aus dem Judentum hervorgegangen und bezieht sich von Anfang an auf die Religion Israels. Die christliche Botschaft bezieht sich auf eine bereits voll konstituierte Religion. In sich davon zugleich unterscheidender In-Beziehung-Setzung setzt die christliche Botschaft die Religion Israels nicht nur als historischen Verstehensrahmen, sondern als theologischen Anknüpfungsraum, Gesprächspartner und möglichen Resonanzboden, eben als theologische Vorgegebenheit voraus. Sie richtet sich von vornherein an religiöse Menschen und damit an eine ganz bestimmte religiöse Tradition. Und tatsächlich erklingt sie in der religiösen Sprache Israels, und ebenso bedienen sich die ersten glaubenden Antworten auf sie dieser Sprache und ihrer Motive.

Zeugnis dafür ist die aus zwei Testamenten bestehende Heilige Schrift des Christentums. Die christliche ist offenbar die einzige Religion, die das gesamte Corpus der Heiligen Schrift einer anderen Religion in den Kanon der eigenen Heiligen Schrift aufgenommen hat. Das Christentum bedient sich der sakralen Texte einer anderen Religion und proklamiert sie in seiner Liturgie als „Wort Gottes“. Dies geschieht sicher zunächst deswegen, weil Jesus, den die Christen als den Christus bekennen, „nach dem Fleisch“ (Röm 1,3) ein Sohn des jüdischen Volkes war, in der jüdischen Religion aufwuchs und seine Heilsbotschaft verkündete, indem er sich der religiösen Vorstellungen und der theologischen Begriffe bediente, die in der Schrift und in der Tradition Israels vorgegeben waren. Die Schrift Israels war die Bibel Jesu.

Dabei ist es entscheidend, zwischen der Schrift Israels und dem Alten Testament theologisch zu unterscheiden. Die eine ist nicht einfachhin das andere. Die Schrift Israels ist das heilige Buch der Juden, wie es unabhängig von der christlichen Botschaft existiert und im Judentum gelesen wird, so wie die indischen Veden unabhängig vom Christentum existieren. Als Heidenchristen haben wir von uns aus kein besonderes Verhältnis zur Schrift Israels. Das Alte Testament ist hingegen derselbe Text, insofern er mit der christlichen Botschaft zur christlichen Bibel verbunden ist und von der Botschaft Jesu her gelesen wird, so dass Christus in ihr entdeckt wird (vgl. z. B. Lk 24,27, 1 Kor 10,4). Das AT ist mithin die christlich ausgelegte Schrift Israels. Die Bezeichnung „Alt“ und „Neu“ stellt also nicht einfach die Aneinanderreihung zweier religiöser Dokumente dar, sondern eine Interpretationsanweisung. Als solche bringt sie das Verhältnis der christlichen Botschaft zur Schrift Israels zum Ausdruck. AT meint also, dass durch die neutestamentliche Botschaft mit der Schrift Israels etwas geschehen ist. Man darf deshalb die Schrift Israels und das Alte Testament nicht miteinander verwechseln.

Aber die christliche Botschaft, wie sie sich im Neuen Testament artikuliert, bezieht sich auf die Schrift Israels nicht nur als auf ihren geschichtlichen Hintergrund und um sich selbst im religionsgeschichtlichen Zusammenhang verständlich zu machen. In einem theologischen Sinn universalisiert die christliche Botschaft vielmehr die Botschaft Israels und ihre Bundes­formel. In der Botschaft Jesu erweist sich der Bund Gottes mit seinem Volk als Bund mit der ganzen Menschheit. Offenbar hat die christliche Botschaft als Heilsbotschaft eine hermeneuti­sche Funktion gegenüber Israel. Die christliche Botschaft macht die Botschaft Israels als an die ganze Menschheit gerichtetes Wort Gottes verständlich. Was den Heidenvölkern erst als Wort Gottes unverständlich war, wird nun durch Christus als Wort Gottes verstehbar und da­mit als Heilsverheißung für die Menschheit als ganze.

Offenbarung ist kein selbstverständlicher Sachverhalt


Tatsächlich hat die Botschaft Israels das Problem – und dies ist der eigentliche Kern meiner Argumentation –, dass sie sich selbst als Wort Gottes nicht verständlich machen kann. Dies weil die Transzendenz Gottes, also die ontologische Differenz, mit der Gott sich restlos von jeder geschaffenen Wirklichkeit unterscheidet und die kennzeichnend ist für den alttesta­mentlichen Gottesbegriff (vgl. z. B. Jes 40,15–25; Ps 39,6f), sich mit der Vorstellung vom „Bund“ nicht in Einklang bringen lässt. Gott im Bund mit einer geschaffenen Wirklichkeit zu denken, also mit einem menschlichen Volk, bedeutet die Transzendenz und Unbegreiflichkeit Gottes in Frage zu stellen und Gott als Teil der Wirklichkeit im ganzen zu denken. Denn Gott und Welt können nicht in einem beide noch einmal umgreifenden Horizont gedacht werden. Denkt man sich Gott aber in einem realen Bezogensein auf die Welt und hält ein solches Be­zogensein für möglich, hat man nicht erfasst, was das Wort „Gott“ bedeutet. Es läuft dann alles darauf hinaus, Gott als Teil der Wirklichkeit im ganzen zu denken. Deshalb ist jeder Of­fenbarungsanspruch einer Religion oder einer „Heiligen Schrift“ von vornherein problema­tisch. Er kann nur dann wirklich als Wort Gottes im Glauben beantwortet und verstanden, also von einer willkürlichen Behauptung unterschieden werden, wenn er sich als Wort Gottes auch verständlich macht. Offenbarung ist eben – gegen ein landläufiges Vorverständnis – keine triviale Selbstverständlichkeit. Dieser Sachverhalt wird nur selten reflektiert und in seinen Implikationen und seiner Tragweite erfasst. Wie aber kann ein menschliches Wort, das doch geschöpflicher Natur ist, Gottes Wort sein? Wie lässt sich dieser problematische Begriff so verstehen, dass er keine unzulässige ontologische Vermischung von Gott und Welt zum Aus­druck bringt?

Die hermeneutische Funktion der christlichen Botschaft

Die hermeneutische Funktion der christlichen Botschaft, die immer eine Dienst- und nicht eine Überbietungsfunktion darstellt, besteht darin, diese Unvereinbarkeit aufzuheben. Die christliche Botschaft macht verständlich, wie die Transzendenz und Unbegreiflichkeit Gottes sich mit der Vorstellung eines Verhältnisses Gottes zur Welt und damit von Gemeinschaft des Menschen mit Gott vereinbaren lässt. In diesem Sinne – und in keinem anderen – ist sie die Erfüllung der Schrift Israels (Lk 4,21). Sie macht den Wort-Gottes-Charakter dieser Schrift überhaupt erst als solchen verstehbar und verantwortbar und zugleich universal verkündbar. Die Schrift Israels wird so auch für Nichtjuden, also für „Heiden“, zum Wort Gottes.

Die christliche Botschaft ist m. W. die einzige religiöse Botschaft, die allein aufgrund ihres trinitarischen Gottesverständnisses angesichts der Transzendenz und Unbegreiflichkeit Gottes eben diese Transzendenz mit dem Gedanken einer Heilsimmanenz Gottes zu vermitteln in der Lage ist, Jahwe und Bund, unüberbietbare Ferne und unüberbietbare Nähe, Absolutheit und Relationalität. Die christliche Botschaft spricht nicht in trivial selbstverständlicher Weise von einem Verhältnis Gottes zu seinem Volk, in einer Weise also, die Gott und Welt in einem beide umgreifenden Denkhorizont vorstellte. In diesem Falle wäre ja der Wirklichkeitsbegriff umfassender noch als die Bedeutung des Wortes „Gott“. Die christliche Botschaft spricht vielmehr von einem Verhältnis Gottes zu Gott, an dem auch sein Volk eingeladen ist teilzu­haben. Doch dieses „Volk“ ist weiter gemeint als das Volk, das innerhalb der ethnisch-religi­ösen Gren­zen des historischen Israels lebt. Die christliche Botschaft bezeugt, dass die ganze Menschheit hineingenommen ist in dieses Verhältnis Gottes zu Gott, d. h. des Vaters zum Sohn (vgl. Eph 1,3–6). Diese Gemeinschaft von Vater und Sohn ist der Heilige Geist.

Der Begriff „Wort Gottes“ vermag sich also nur in diesem trinitarischen Gottesverständnis verständlich zu machen. Zu seiner Hörbarkeit impliziert „Wort Gottes“ die Inkarnation des Sohnes. Wort Gottes hat nur eine sinnvolle Bedeutung, wenn Gott selbst als Mensch begegnet, bzw. wenn ein Mensch dieses Wort sagt, das nur Gott sagen kann (Peter Knauer).

Der Christ weiß sich also hineingenommen in das Gottesverhältnis Jesu. Der Bund, von dem die Schrift Israels spricht, offenbart sich im Licht der christlichen Botschaft als ein in­nertrinitarisches Verhältnis zwischen Vater und Sohn in Gott (vgl. Joh 17). Der biblische Bund ist in Wirklichkeit die Gemeinschaft, die Gott mit seinem Sohn hat und an der wir teil­nehmen. Der Bund selbst ist der Heilige Geist. Nur unter dieser Voraussetzung ist der Bund tatsächlich verlässlich und unkündbar.

Weil die ganze Menschheit nach christlichem Glauben bereits „in Christus“ geschaffen ist (vgl. Kol 1,16), wird im Licht dieses Glaubens nun verständlich, wie die Verheißungen an Israel tatsächlich allen Völkern gelten. Die Verheißung gilt allen. Die christliche Botschaft erläutert diesen Sachverhalt. Deshalb wird die Schrift Israels, die die Bibel Jesu war, wenn sie im Licht seiner Botschaft gelesen wird, für die Christen zum „Alten Testament“.

Dabei gibt die christliche Botschaft selbst an, wie sie ihr Verhältnis auch zu den anderen Religionen versteht. Der christliche Glaube verhält sich nicht exklusivistisch gegenüber Israel. Sie schließt Israel weder von der Wahrheit noch vom Heil aus. Das Christentum will das Judentum nicht ersetzen (vgl. Mt 5,17).

Der christliche Glaube versteht sein Verhältnis zu Israel auch nicht im Sinne des Inklusi­vismus. Dieser billigt nämlich einer anderen Religion allenfalls eine teilweise Partizipation an der eigenen Wahrheit zu. Die Kirche aber proklamiert in ihrer Liturgie die Schrift Israels als „Wort Gottes“. „Wort Gottes“ kann nicht als eine nur vorläufige oder partielle Wirklichkeit verstanden werden. Gottes Wort, insofern es etwas mitteilt, das nur Gott sagen kann, „ist Gott“ (Joh 1,1). Tatsächlich teilt das Wort Gottes Gemeinschaft mit Gott mit. In alttestament­licher Terminologie: Bund mit Gott. Es handelt sich bei Gottes Wort also immer um eine un­überbietbare Wirklichkeit. Anderenfalls könnte dieses Wort nicht als „Wort Gottes“ prokla­miert werden. Also handelt es sich bei der christlichen Position nicht um eine inklusivistische. Die christliche Botschaft macht vielmehr universal verständlich, in welchem Sinne die Bot­schaft Israels eine unüberbietbare aber ganz und gar unselbstverständliche und aus der Wirk­lichkeit nicht ableitbare Wahrheit bezeugt: Gemeinschaft des Menschen mit Gott.

Letztendlich versteht die christliche Botschaft ihr Verhältnis zu Israel auch nicht im Sinne der pluralistischen Theologie. Christlicher Glaube und Schrift Israels stehen nicht nebenein­ander wie zwei unabhängige Religionen, die aber als gleichwertige Manifestationen und Aus­druck einer transzendenten Wirklichkeit zu verstehen wären. In der Bibel folgt nicht eine au­tonome religiöse Botschaft auf eine andere ebensolche. In der christlichen Bibel stehen die Schrift Israels und die christliche Botschaft nicht pluralistisch nebeneinander. Es folgt auch nicht ein Zweites auf ein Erstes Testament. Die christliche Bibel besteht vielmehr aus dem Alten und dem Neuen Testament. Diese Bezeichnungen geben einen Interpretationsvorgang an, also ein hermeneutisches Verhältnis. Wenn die Schrift Israels im Lichte der christlichen Botschaft gelesen wird, wird sie zum „Alten Testament“. Es handelt sich dabei um eine „neue“ Weise, die Schrift Israels zu verstehen. Die christliche Botschaft versieht also einen hermeneutischen Dienst an der Schrift Israels, indem sie sie relativiert, insofern diese sich für sich allein ge­nommen nicht als Wort Gottes verständlich macht, und indem sie sie zugleich universalisiert und ihre Verheißungen als an alle Völker gerichtet und in Christus bereits erfüllt versteht.

In dieser Sicht versteht man, warum sich die christliche Botschaft nicht einordnen lässt in unsere theologischen Klassifikationsschemata. Der christliche Glaube versteht sich als „neuer Wein in neuen Schläuchen“ (Mk 2,22)! Er sprengt die alten Schläuche, also unser theologi­sches und religiöses Vorverständnis. Wie wir gesehen haben, verhält sich die christliche Bot­schaft gegenüber der Schrift Israels weder exklusivistisch, noch inklusivistisch, noch auch pluralistisch. Die christliche Botschaft verhält sich hermeneutisch gegenüber der Bibel Israels. Sie lässt diese wahrhaft als Wort Gottes für alle Menschen verstehen.

Das darf nicht dahin missverstanden werden, als ob die Schrift Israels erst durch Christus zur Offenbarung Gottes würde. Aber erst durch Christus wird der Wort-Gottes-Charakter dieser Schrift offenbar und endgültig sinnvoll verstehbar. Denn wenn die ganze Menschheit in Christus geschaffen ist und die Heilsgeschichte koextensiv mit der Menschheitsgeschichte ist, dieser Sachverhalt aber ursprünglich verborgen bleibt, so kommt er durch Christus ans Licht

Im Verhältnis zu den anderen Religionen

Ich möchte deshalb vorschlagen, dieses Verhältnis der christlichen Botschaft zur Schrift Isra­els als Paradigma zu begreifen auch für das Verhältnis des christlichen Glaubens zu anderen Religionen. Alle Religionen verheißen ihren Anhängern ein Heil, das alle Möglichkeiten menschlicher Selbstverwirklichung absolut übersteigt, haben sie alle das Problem, dass sie nicht wirklich verständlich machen können, wie denn diese Verheißungen tatsächlich einlösbar sein sollen, ohne für die kritische Vernunft ein Widerspruchsproblem aufzuwerfen. Denn diese Heilsverheißungen können nur als wahr geglaubt werden wenn sie sich als Gottes Versprechen, also als Wort Gottes verstehen lassen. Das aber können sie ohne Christus nicht. Mit anderen Worten: diese Verheißungen der Religionen vermögen es nicht, sich als Wort Gottes verständlich zu machen. Und das aus dem gleichen Grunde, aus dem auch die Schrift Israels für sich allein das nicht vermag, sondern „schleierhaft“ bleibt (vgl. 2 Kor 3,14–16).

Tatsächlich können die Offenbarungsreligionen – wie wir das bereits am Beispiel Israels gesehen haben – trotz ihrer Berufung auf Offenbarung diesen Anspruch nicht als Wort Gottes verständ­lich machen. Denn sie widersprechen eben mit ihrer Berufung auf göttliche Offenbarung ihrem eigenen Gottesbegriff. Die asiatischen Re­ligionen aber, die sich nicht auf eine göttliche Offenbarung berufen, müssten erklären, wie ihre Heilsversprechungen aus menschlicher religiöser Kraft zu verwirklichen sein sollen. Ge­schaffene Qualität reicht nicht aus, um Gemeinschaft mit einer absoluten transzendenten Wirklichkeit zu begründen. Wie können also unsere religiöse Aktivität, unsere moralischen und spirituellen Anstrengungen, die doch geschöpflicher Natur sind, die Erfüllung dieser Verheißungen realisieren (vgl. Hebr 10,4 als Appell an die Vernunft).

Bereits der Hebräerbrief begreift das besondere Verhältnis zum alttestamentlichen Operkult als Paradigma, um die Unwirksamkeit aller religiösen Opfer überhaupt zum Ausdruck zu bringen, in Christus aber die Erfüllung auch der Religion Israels zu sehen. Daran wird deut­lich, dass die christliche Botschaft gegenüber den anderen Religionen eine hermeneutische Funktion erfüllt, die analog ist zu der, die sie gegenüber der Schrift Israels hat.

Im Neuen Testament haben wir noch weitere Ansätze dafür. Z. B. forderten die Judenchristen zunächst von den Heiden, die Christen werden wollten, diese müssten zuerst Juden werden. Of­fenbar konnte man sich noch nicht vorstellen, dass sich die christliche Botschaft an Menschen so wie sie sind richtet. Das Apostelkonzil kam dann aber zu dieser Entscheidung: die Heiden können getauft werden, ohne zuerst Beschneidung und die Torah zu übernehmen (vgl. Apg 15). Paulus versucht in seiner Areopagrede, auf die Religiosität der Athener einzu­gehen (vgl. Apg 17,16ff). Und im Lukasevangelium preist Simeon als Vertreter des Alten Bundes Jesus als „Licht zur Enthüllung der Heiden und Herrlichkeit für sein Volk Israel“ (Lk 2,32). Die christliche Botschaft beginnt schon im NT sich als hermeneutischer Schlüssel überhaupt zur Entbergung der Wahrheit Gottes in der ganzen Menschheitsgeschichte zu ver­stehen.

Man könnte einwenden, dieser Vorschlag könne nicht auf Religionen angewandt werden, die kein personales Gottesverständnis haben und sich nicht auf Offenbarung zurückführen. Das gilt beispielweise für den Buddhismus. Doch auch der Buddhismus macht seinen Anhängern Heilsversprechen. Er verheißt ihnen eine Erlösung, die über alle irdischen Realisationsmöglichkeiten hinausgeht und deshalb als unüberbietbares Heil zu verstehen ist. Wie aber kann man solche Heilsversprechen für wahr halten und ihnen Vertrauen schenken, wenn sie nicht als Wort Gottes verstehbar sind? Wie unterscheiden sie sich von menschlichen Illusionen oder frommen Träumen? Aus christlicher Sicht können solche Heilsversprechen nur dann Vertrauen verdienen, wenn sie als Wort Gottes verstehbar sind. Aus unserer Sicht bestehen diese Verheißungen durchaus zu recht und sind als Wort Gottes, also als Christus im Buddhismus, durchaus verstehbar. Und steht der buddhistische Begriff der „Erleuchtung“ nicht in großer Nähe zu dem der „Offenbarung“? Von wem wird der buddhistische Weise erleuchtet? Wie können Christen das anders verstehen als so, dass sie in Christus das Licht sehen, „das jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1,9).

„Interiorismus“ als Alternative

Die christliche Botschaft macht verständlich, dass die Heilsverheißungen der anderen Religi­onen keineswegs bloße Illusionen sind, aber tatsächlich als Verheißung Gottes (Wort Gottes) und deshalb als einlösbar verständlich sind, ohne den Widerspruch der kritischen Vernunft herauszufordern. Die christliche Botschaft macht auch die Botschaften der anderen Religio­nen universal verkündbar. Sie will jene keineswegs exklusivistisch ersetzen. Im Lichte der christlichen Botschaft offenbart sich auch die ganze und unüberbietbare Wahrheit der anderen Religionen. Christus (nicht das Christentum!) ist auch deren unüberbietbare Wahrheit. In ver­borgener Weise ist Christus schon immer in ihnen präsent. Man könnte – in vorläufiger Er­mangelung eines besseren Begriffs – diese Position „Interiorismus“ nennen.

Israel behält dabei selbstverständlich sein Erstgeburtsrecht. Denn die Botschaft Jesu ist zu­erst in Beziehung zur jüdischen Religion formuliert worden. Israel ist und bleibt so der Erst­adressat der christlichen Botschaft. Unser besonderes, als kanonisch definiertes Verhältnis zu Israel (und kein anderes!) ist das Paradigma, um unser Verhältnis auch zu den anderen Reli­gionen zu bestimmen. Dieser paradigmatische Charakter gründet gerade in dem besonderen Verhältnis, das wir zu Israel haben. Aber auch diese Besonderheit steht – wie alle biblischen Erwählungen – im Dienste aller.

Abschließend können wir das Gesagte in den folgenden Kurzformeln zusammenfassen:

Der christliche Glaube bezeugt

  • weder Christus gegen die Religionen ( = Exklusivismus),
  • noch Christus über den Religionen (= Inklusivismus oder Superioritätsan­spruch),
  • noch auch Christus neben den Religionen (=Pluralismus).

Diese drei Positionen wahren nicht die Unüberbietbarkeit der Wahrheit aller Religionen. Ex­klusivismus und Inklusivismus bestreiten die Wahrheit der anderen Religionen. Der Pluralis­mus leugnet in gewisser Weise auch die der eigenen Religion, um sie als gleichwertig neben die anderen zu stellen. Christus aber offenbart auf unüberbietbare Weise die unüberbietbare Wahrheit auch anderer Religionen. In der Tat bezeugt das Neue Testament Christus als „Licht zur Enthüllung (eis apokálypsin) der Heiden und Herrlichkeit für sein Volk Israel“ (Lk 2,32). Deshalb gilt die Formel:

  • Christus in den Religionen (= Interiorismus)

Diese Formel anerkennt, dass auch andere Religionen unüberbietbar wahr sein können, so wie es auch der Ex 6,7 bezeugte Bund ist, der jedoch nur durch Christus als Wort Gottes ver­stehbar und deshalb auch universalisierbar ist. Christus enthüllt die unüberbietbare Wahrheit der Religionen.

So gesehen, erfüllte der christliche Glaube einen Dienst an den Religionen. Ein solches Dienstverhältnis muss nicht notwendigerweise einseitig verstanden werden, sondern könnte auch auf Gegenseitigkeit beruhen. Denn wenn wir anerkennen, dass Christus auch in den anderen Religionen gegenwärtig ist, bekommen diese ein neues Verhältnis zur christli­chen Botschaft, ähnlich wie auch die Schrift Israels in ein Verhältnis zur Kirche kommt. Christus spricht dann auch aus den anderen Religionen zu uns. So ist die Verkündigung.